Wir müssen Reden: Der Literaturbetrieb und Diversität

Liebe Autor:innen, liebe Verlage, körperliche Behinderungen, körperliche Auffälligkeiten & psychische Erkrankungen als kennzeichnendes Merkmal eines Antagonisten sind ein müdes, faules überholtes & aus der Zeit gefallenes Klischee. MACHT! DAS! NICHT!

Okay, Twitter-Thread-Time. Wenn ich bitte mal die Aufmerksamkeit der Twitter-Literatur-Bubble haben dürfte. Wir müssen reden. Und damit meine ich sowohl Autor:innen, Agent:innen, Verlagsmitarbeitende & das Feuilleton, als auch Kritiker:innen.

Liebe Autor:innen, liebe Verlage, körperliche Behinderungen, körperliche Auffälligkeiten & psychische Erkrankungen als kennzeichnendes Merkmal eines Antagonisten sind ein müdes, faules überholtes & aus der Zeit gefallenes Klischee. MACHT! DAS! NICHT!

Kurze Vorgeschichte von meiner Seite: Ende vergangenen Jahres las ich die ersten beiden Teile des „Aurora Cycle“ von Amie Kaufman und Jay Kristoff. (Es ist eine Esemble-Story, daher gibt es mehrere Hauptcharaktere.)

Was mich besonders an den Büchern einnahm, abgesehen von der Geschichte und der Welt die ich kurz mit „weird and wonderful“ umschreiben möchte, war die (oft) selbstverständliche Art, mit der Anders-Sein dargestellt wurde.

Einer der Hauptcharaktere ist körperlich behindert und bisexuell. Zwei männliche Protagonisten faken einen heißen Kuss, um ihre Anwesenheit an einem Ort, an dem sie nicht sein sollten, erklärbar zu machen und keine Person reagiert blöd darauf.

Die Welt scheint in vielen wichtigen Punkten einen Schritt weiter gedacht, als unsere und das ist u.a. was ich unter Hope Punk verstehe

Das heißt leider nicht, dass die Bücher völlig frei von problematischen Inhalten wären.

Während körperliche Abweichungen als normal dargestellt werden, sind sie es auch wieder nur dann so wirklich im Zusammenhang mit Schönheit. Wie oft erwähnt wird, wie gut Charakter XYZ doch aussieht, geht mit der Zeit sogar ein bisschen auf die Nerven.

Das ausgerechnet der Love-Interest des Anführers zwar nicht sterben muss, aber transformiert werden muss, um quasi nicht im Weg zu sein, finde ich auch so … lala.

Es gibt eine sich überlegen fühlende Spezies mit spitzen Ohren und ich muss gestehen, was mich inzwischen positiv überraschen würde, wäre, wenn es eine solche Spezies gäbe, die objektiv überlegen ist, aber das nicht ständig schniedel-schwenkend kund tun muss.

Die Wissenschaftlerin der Gruppe fällt leider auch in die Trope des ‚Mad Scientist‘ und damit einem negativen Bild von Wissenschaftlern in der Öffentlichkeit. Ein Problem, das während der Flights of Foundry-Konferenz auf dem Panel „The Unhelpful Legacy of Mad Scientists: Writing Scientists as Positive Role Models“ thematisiert wurde.

Alles in allem finde ich die Trilogie aber absolut lesenwert und ich werde auch das dritte Buch lesen und mir für die Zukunft vermutlich auch andere Bücher von Amie Kaufman vornehmen.

In Bezug auf Jay Kristoff denke ich: eher nicht.

Es gab da ein paar Wellen, u.a. auf Twitter und soweit ich das im Nachhinein rekonstruieren konnte, entzündete es sich mehr oder weniger durch seine Beteiligung an einer Gruppe, die eine Muslima (Hafsah Faizal) mobbte.

Ich vermute, dass dieser Artikel einen ganz guten Überblick gibt:

Literary community rocked by anti-Asian and anti-Semitic allegations

In Zuge dessen meldete sich eine Frau zu Wort, die den problematischen Umgang mit Albinismus in Kristoffs Serie „Nevernight Chronicles“ thematisiert:

An diesem Punkt ist mir schon so ein bisschen die Kinnlade runtergeklappt, denn um sich ausgerechnet Albinismus auszusuchen und das Othering für den Plot zu verwenden … dazu gehört ein gerütteltes Maß an ’nicht Merken‘.

Da müssen wir nicht mal aus den westlichen Kulturen rausschauen. Ich meine, hier ist sogar Rothaarigkeit noch ein (vorgeschobener) Grund/Auslöser für Mobbing.

Krautreporter: Mobbing ist Psychoterror

Da kann man sich sehr gut vorstellen, wie es Kindern mit Albinismus an deutschen Schulen ergeht.

In den vergangenen Jahren wurde aber auch medial der Blick verstärkt auf das Problem von Menschen mit Albinismus in Regionen Ostafrikas gelenkt:

Weitere Artikel zum Thema:

Auch wenn Kristoffs Werke sicherlich nicht die Situation dieser Personengruppe verschlimmern, sich unter diesem Hintergrund ausgerechnet einen Charakter mit Albinismus als den Antagonisten herauszupicken, spricht von großer Ignoranz.

Darüberhinaus verwendet Kristoff auch noch antisemitische Tropes:

Und das anscheinend nicht mal nur zufällig oder aus mangelnder Recherche heraus.

Natürlich ist auch die Ehrenrettung nicht weit und der Hinweis, das wir im Prinzip jeden Autoren ‚canceln‘ müssten, wenn wir anfangen Autoren aus unseren Leselisten zu streichen, die schädliche Stereotype verwenden.

Die nicht-beabsichtigte Nebenbotschaft des Tweets sollte uns wirklich sehr aufmerksam machen.

Es gibt viel zu viele Bücher, die körperliche Besonderheiten, Behinderungen und psychische Erkrankungen, die _Auffälligkeiten_ als faules Motiv nutzen.

Es gibt zu viele Autoren, die Andersartigkeit als schlampiges Werkzeug nutzen, um ’schlechte Menschen‘ zu kennzeichnen.

Es gibt zu viele Autoren, die auf überholte und schädliche Stereotypen setzen, im Wissen, die Leserschaft versteht dann schon.

Es gibt zu viele Verlage, die auch nach solch einfachen Botschaften und scherenschnittartigen Charakteren verlangen, weil sie ihrer Leserschaft Komplexität und vielschichtiges Denken nicht zutrauen.

Es gibt zu viele Lektoren, die ihre eigenen Vorurteile und eingefahrenes Denken mit in den Job bringen und auch anschließend nicht reflektieren.

Die gesamte Branche reflektiert nicht, oder nicht ausreichend, wie sie zu schädlichen Stereotypen gegenüber Menschen mit Behinderungen & psychischen Erkrankungen beitragen, diese etablieren, stützen und den Abbau verhindern.

Hence:

Liebe Autor:innen, liebe Verlage, körperliche Behinderungen, körperliche Auffälligkeiten & psychische Erkrankungen als kennzeichnendes Merkmal eines Antagonisten sind ein müdes, faules überholtes & aus der Zeit gefallenes Klischee. MACHT! DAS! NICHT!

Ganz besonders auch im Bereich der TV- und Filmproduktionen begegnet mir immer wieder die Haltung, dass man sich ja nur auf das stützen würde, was man über $SUBGRUPPE ganz sicher weiß. Das man, was man glaubt über $SUBGRUPPE zu wissen, aber sehr oft aus medialen Produktionen weiß …

… mediale Produktionen, die von einem Grundlagenwissen ausgehen, das sie … aus medialen Produktionen haben.

Hier haben wir einen perfekten Feedback Loop, der nicht zu durchbrechen ist, wenn sich Medienschaffende nicht endlich mit Menschen mit Behinderungen & anderen Minderheiten offen auseinandersetzen.

Und zwar nicht nur, in dem sie so lange suchen, bis sie die Token finden, die durchwinken was sie ohnehin erzählen wollen.

Ich blicke hier vielsagend zum „Jenke Experiment“ und zu „Ella Schön„. @ZDFpresse

Was aber kann man tun, wenn man schreibt, schöpft, erschafft und will nicht ständig die müden alten Formeln wiederholen?

Nun, zum einen gibt es „Sensitivity Reader“.
Das sind Menschen, die einer bestimmten Minderheit angehören, denen man das Werk reicht, die es durchlesen und auf problematische Inhalte hinweisen.


Merke: Sensitivity Reader investieren ihre Zeit, der Prozess ist eine Stufe des Editierens und sie gehören angemessen entlohnt. Daher bitte keine Anspruchshaltung, Sensitivity Reader müssten doch glücklich sein, umsonst arbeiten zu dürfen, weil sie ja ein Interesse daran haben müssten, keinen Blödsinn über ihre spezielle Minderheit zu lesen.

Bezahlt Sensitivity Reader!

Gerade Verlage sollten ein Interesse daran haben, Bücher durch diese Stufe des Überarbeitungsprozesses laufen zu lassen und die Kosten übernehmen/nicht dem Autor aufbürden.


Leider wird Sensitivity Reading auch von wichtigen Stimmen der Literaturcommunity immer wieder mit Häme überzogen und Sensitivity Reading gar unterstellt, Kreativität zu behindern:


Schreiben mit Kondom: Diversität, politische Korrektheit, Empfindlich…
archived 14 Aug 2019 14:54:48 UTC

Wenn man müde, teils jahrhundertealte Vorurteile und faule Abkürzungen bei der Darstellung von Antagonisten mit ‚Kreativität‘ verwechselt, dann mag das ja zutreffen.

Wenn man sich also in Position bringt, auch auf die nächsten Jahrzehnte hinaus, sich selbst und langweiligen Mief von gestern immer nur zu wiederholen, dann sollte man unbedingt auf Sensitivity Reading verzichten.

Wenn man allerdings sagt „challenge accepted“ und versucht als Autor (und Verlag) zu wachsen, mutig zu sein, und daher abgegriffene Formeln irgendwann nicht mehr braucht, dann ist Sensitivity Reading ein Schritt der Buchproduktion, den man weder fürchten muss noch ein Schritt, der signifikant etwas am Buch verändern wird.

Nur faule Autoren und ewiggestrige Verlage müssen Sensitivity Reading fürchten. Nur bei ihnen bringt Sensitivity Reading die ‚Kreativitität‘ in Gefahr.

Nur faule Autoren und ewiggestrige Verlage müssen Sensitivity Reading fürchten. Nur bei ihnen bringt Sensitivity Reading die ‚Kreativitität‘ in Gefahr.

Mela Eckenfels

Aber wir schreiben 2021 und es wird Zeit, dass wir uns alle fragen, wie kreativ es wirklich ist, wenn man in Wirklichkeit geschmiert durch alte Formeln durch den Buchproduktionsprozess rutscht.

Man denke nur an Sebastian Fitzek, seinen Roman „Der Insasse“ und die ‚haha lustig‘ Promo-Aktion des @KnaurVerlag die Vorab-Leser zur Übernachtung in eine forensische Psychiatrie einladen wollten.

Bemerkenswert daran ist das Datum. 2018 und nicht 1950.

Aber immer noch ist das Klischee des gefährlichen, psychisch Erkrankten nicht tot zu bekommen, was ganz objektiv übrigens zu Gewalttaten an psychisch Erkrankten führt.

Während nur ein Prozentsatz psychisch erkrankter Menschen gewalttätig ist, der unter dem Anteil gewalttätiger und nicht psychisch kranker Menschen liegt.

Results. Prevalence of perpetration ranged from 11.0% to 43.4% across studies, with approximately one quarter (23.9%) of participants reporting violence. Prevalence of victimization was higher overall (30.9%), ranging from 17.0% to 56.6% across studies. Most violence (63.5%) was perpetrated in residential settings. The prevalence of violence-related physical injury was approximately 1 in 10 overall and 1 in 3 for those involved in violent incidents. There were strong associations between perpetration and victimization.

Conclusions. Results provided further evidence that adults with mental illnesses experienced violent outcomes at high rates, and that they were more likely to be victims than perpetrators of community violence. There is a critical need for public health interventions designed to reduce violence in this vulnerable population.
Community Violence Perpetration and Victimization Among Adults With Mental Illnesses (2014) – American Journal of Public Health

So, aber was kann abgesehen von Sensitivity Reading getan werden?

Besser werden, aber wie?

Punkt 1 ist natürlich, wenn Autor:innen, Verlage und eigentlich alle Menschen, die an Literaturproduktion und Literaturkritik beteiligt sind, sich für das Thema sensibilisieren.

Wenn Autor:innen erst gar keine Probleme in Texte einbauen, die dann mühsam von Sensitivity Readern herausgepflückt werden müssen, ist schon viel gewonnen.

Vor allem: Wenn müde, alte Ideen in die Mottenkiste weggeschlossen werden, wo sie hingehören, dann haben frische, neue Ideen überhaupt erst den Raum zum Wachsen.

Nur dann braucht es auch Verlage, die sich trauen neue Wege zu gehen und die nicht auf bewährte Formeln setzen, die sie lieber totreiten, als einmal den mutigen Sprung zu wagen.

Denn natürlich bedeuten neue Wege, neue Ideen auch Risiko. Man weiß noch nicht, was beim Publikum ankommt. Während man das bei den alten Formeln weiß, oder zu wissen glaubt.
Auch wenn das Publikum längst nur deswegen kauft, weil ihm nichts anderes geboten wird.

Ganz ehrlich, ich habe viele Jahre nur wenig (fiktionale Literatur) gelesen, aber aktuell hat mich Lesen quasi neu für sich gewonnen.
Einfach weil wir in manchen Bereichen der Branche ein neues, goldenes Zeitalter betreten haben.

Das Publikum ist divers. Literatur sollte es auch sein.

Mit Geschichten, Protagonisten, mit Konflikten die mich tatsächlich interessieren. Die mich tatsächlich betreffen. Die sich persönlich anfühlen, frisch und auch aufbauend.

Und bei denen ich nicht ständig befürchten muss, dass ich umblättere und über ein besonders hässliches Autismusklischee stolpere.

Und ich garantiere euch, liebe Verlage, so geht das jedem Leser, der einer Minderheit angehört.

Das schale Gefühl, wenn wir umblättern und ein besonders abgegriffenes Klischee über unser Sein entdecken … wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir sagen können: Wir wollen es nicht mehr.

Und wir sind an einem Punkt angelangt, an dem ich auch sagen kann: Wir müssen es nicht mehr hinnehmen. Es gibt genug Werke von Autoren, traditionell publiziert oder im Selfpublishing, die uns geben, was wir wollen. Die Sicherheit, uns in der Literatur wiederzufinden.

Oder alternativ wenigstens die Sicherheit, in der Literatur nicht das Dauerabo auf Bösewichte oder dumme Vorurteile zu haben.

Nein, es müssen nicht alle Bücher #ownvoices sein, aber andere Autor:innen dürfen sich gerne bei #ownvoices anschauen, welche Darstellungen überholt sind oder gleich ganz unrealistisch.

Weg damit

Mal eine (extrem unvollständige) Liste an Tropes, die in die Mottenkiste gehören:

  1. Paraplegiker/Tetraplegiker, die unbedingt sterben wollen.
    Das ist DeathPorn für Nichtbehinderte. Lasst es.
  2. Gewalttätige psychisch Kranke.
    Erneut: psychisch kranke Menschen sind statistisch weniger gewalttätig als Menschen, die nicht psychisch erkrankt sind. Wenn Trope, dann bitte die Trope des gewalttätigen Gesunden. Danke.
  3. Hilflose Blinde, die deswegen einen sehenden edlen Ritter brauchen.
    Erst mal lernen, wie viel blinde Menschen wirklich können. Weit mehr als sehende Menschen glauben nämlich.
  4. Frustrierte Menschen mit Behinderungen, die wegen ihrer Behinderung frustriert sind, unglücklich oder böse.
    Behinderte Menschen, die wegen der bösartigen Umwelt frustriert sind, sind deutlich realistischer.
  5. Autisten, die irgendwelche niedlichen zwischenmenschlichen Schwierigkeiten mit Love Interests haben oder als beziehungsunfähig dargestellt werden.
  6. Antagonisten, die: hinken, Gliedmaßen nicht richtig bewegen können, Prothesen tragen, Orthesen tragen, im Rollstuhl sitzen, auffällige Narben oder Veränderungen im Gesicht haben, einen Buckel oder Klumpfuß haben.
  7. Übergewicht als Anzeichen eines schlechten Charakters.
  8. Autisten, die als Ansammlung merkwürdiger Quirks porträtiert werden.

Jenseits von Sensitivity Reading — Branchentreffen besser machen

Also weiter, was kann man tun, abgesehen von Sensitivity Reading?

Auf Barcamps gibt es immer mal wieder entsprechende Themen. So hat @blues1ren auf dem Litcamp HD eine Session angeboten, wie man Stereotype in Bezug auf psychische Krankheiten vermeidet. (gut besucht)

Ich selbst hatte zweimal eine Session angeboten, wie man das gleiche in Bezug auf Behinderungen schafft. (weniger gut besucht)

@leidmedien bietet Trainings an, die sich zwar mehr an Redaktionen richten, aber sicher auch für Verlage nicht schaden.

@raulde hat, soweit ich das weiß, wissenschaftlich über das Thema Behinderung in der Literatur gearbeitet und auch @RolliFraeulein treibt sich in diesem Bereich herum. Ich denke, man kann beide für Vorträge ansprechen.

Sofern Englisch keine Barriere ist, ist das Buch „Writing the Other“ ein brauchbarer Einstieg.

Wer tiefer einsteigen oder eigene Vorurteile abbauen will und über einen bestimmten Bereich dazu lernen will, findet auf der Webseite von „Writing the Other“ Kurse:

Bzw. die Aufzeichnungen vergangener Kurse.

Eine wichtige Aufgabe könnten auch die Branchentreffen übernehmen.

Ich sage hier bewusst „könnten“, weil sie es nicht tun. Zumindest in Deutschland nicht.

Also hier rede ich vor allem von Veranstaltungen, bei denen man sich, anders als bei Barcamps, nicht einfach hinstellen und eine Session anbieten kann.

Da waren die Branchentreffen — auch von relativ neuen Autoren-Zusammenschlüssen — bisher eher ernüchternd.

Das Thema wird an den Rand gedrängt, man stopft Diskussionen über Diversität komplett in ein Panel, eine Diskussionsrunde, anstatt zu verstehen, dass das Thema Teil jedes anderen Bereichs von Schreiben und Publizieren ist.

Anstatt zum Beispiel dafür zu sorgen, dass alle Panel, alle Diskussionsrunden divers besetzt sind und so auch die Blickwinkel von Minderheiten in jedem Fall eine Rolle spielen.

Ja, das bedeutet manchmal Platz und Redezeit von etablierten Autoren, Autoren die aktuell etwas zu vermarkten haben, den Big Wigs der eigenen Organisation, den Buddies wegzunehmen und eher unbekannten Autoren zu geben.

Aber auch das ist dann eine Aussage, nämlich die, dass man in einem inzestuösen System der ‚Etablierten‘ leben möchte und jegliche Öffnung als bedrohlich empfindet. Und das wiederum sagt dann aus, dass die Werke der Peer-Group so gut vielleicht nicht sind?!

Der Blick über den Tellerrand

Organisationen in den USA oder internationaler ausgerichtete Branchentreffen bekommen das weit besser hin.

Z. B. wurde ich von der @sfwa eingeladen, an der Programming Conference teilzunehmen. Also dem Gremium, das auf Diversität im Programm der Nebula-Konferenz achtet.

(Ich habe die Einladung dann leider nicht angenommen, weil mir in der Zeit familiäre Probleme dazwischen kamen. :-/ Aber das steht auf einem anderen Blatt.)

Daran sieht man: dort ist sowohl das Bewusstsein für das Problem vorhanden, als auch der Wille zur Lösung.

In dem man nämlich Menschen einläd, die darauf achten, was im Programm fehlt oder wo vielleicht auch ein ungutes Ungleichgewicht entsteht. Sowohl Menschen aus unterschiedlichen Gegenden der Erde, als auch Angehörige von Minderheiten.

Ähnliche Ansätze sehe ich hier nicht. Sollte ich sie übersehen, bitte ich um entsprechende Hinweise.

Nach der @FlightofFoundry hatte ich für mich eine Übersicht zusammengestellt, wie viele der Veranstaltungen Behinderung als Thema behandelte. Entweder als zentrales Thema oder es zumindest am Rande anschnitten: Ich kam auf 15 Sessions bei meiner Zählung, aber es kann durchaus sein, dass ich die eine oder andere übersehen habe.

Das ist bei insgesamt über 375 Sessions immer noch eine verbesserungswürdige Quote. Aber seien wir ehrlich:

Das ist eine Präsenz, die wir uns im deutschen Sprachraum nur wünschen könnten und die auch auf lange Sicht hinaus Wunschdenken bleiben wird. Wir könnten die Vorurteile der Teilnehmer durcheinanderbringen.
Entschuldigt, ich meine natürlich ‚ihre Kreativität zerstören‚.

Diese 15 Sessions sind nicht alle Sessions, die sich mit Diversität beschäftigt haben. Zieht man die Abgrenzung weniger eng, sondern bezieht auch noch Rassismus, Antisemitismus und anderen Themen mit ein, war das Angebot auf dem @FlightofFoundry noch mal größer.

Demgegenüber Branchentreffen im deutsprachigen Raum: ein Panel. Vielleicht.

Und das ist nicht mal nur das Angebot. Das zweite Problem ist, dass das Angebot nicht hinreichend nachgefragt wird, selbst wenn es vorhanden ist.

Oft, weil Programming-Entscheidungen ungut getroffen wurden und Themen zu Diversität parallel zu stark nachgefragten und populären Themen liegen. Teils weil sich viele deutsche Autoren einfach die Vorurteile (noch) nicht durcheinanderbringen lassen wollen.

Im Prinzip sind wir immer noch dabei, Bewusstsein dafür zu schaffen, warum das wichtig ist.Ich kann aber wirklich, wirklich jeder Person, die schreibt, jeder Person, die in der Literaturindustrie arbeitet, nur dazu raten, an diesem Punkt über den eigenen Schatten zu springen.

Ja, das eigene Weltbild in Frage zu stellen, tut weh. Aber ihr werdet besser, eure Literatur wird besser und euer Bild von der Welt wird weiter.

Zu einem meiner Highlights auf der Nebula-Konferenz im vergangenen Jahr gehörte das Panel „Blades and Badasses: Disability and Swordwork„. Und – oh Boy – ich werde nie wieder die Fähigkeit auch profund behinderter Menschen unterschätzen, effektiv auszuteilen.

Um zum Schluss zu kommen:Werdet besser. Außer natürlich, ihr findet Mittelmäßigkeit gut und wollt nicht mehr als mit hergebrachten Formeln, mit denen man auch 1970 einen Roman hätte verkaufen können, durch das 21. Jahrhundert rutschen.

Eine Liste mit deutschsprachigen Sensitivity-Readern wird (u. a.?) von @VictoriaLinnea1 kuratiert.

Remember:

Liebe Autor:innen, liebe Verlage, Körperliche Behinderungen, Körperliche Auffälligkeiten & Psychische ERkrankungen als Kennzeichnendes Merkmal eines Antagonisten sind ein müdes, Faules überholtes & aus der Zeit gefallenes Klischee. MACHT! DAS! NICHT!

Originally tweeted by Mela Eckenfels (@Felicea) on 25. May 2021.

Fürs Poesiealbum

Es gibt viel zu viele Bücher, die körperliche Besonderheiten, Behinderungen und psychische Erkrankungen, die _Auffälligkeiten_ als faules Motiv nutzen.

Es gibt zu viele Autoren, die Andersartigkeit als schlampiges Werkzeug nutzen, um ’schlechte Menschen‘ zu kennzeichnen.

Es gibt zu viele Autoren, die auf überholte und schädliche Stereotypen setzen, im Wissen, die Leserschaft versteht dann schon.

Es gibt zu viele Verlage, die auch nach solch einfachen Botschaften und scherenschnittartigen Charakteren verlangen, weil sie ihrer Leserschaft Komplexität und vielschichtiges Denken nicht zutrauen.

Es gibt zu viele Lektoren, die ihre eigenen Vorurteile und eingefahrenes Denken mit in den Job bringen und auch anschließend nicht reflektieren.

Die gesamte Branche reflektiert nicht, oder nicht ausreichend, wie sie zu schädlichen Stereotypen gegenüber Menschen mit Behinderungen & psychischen Erkrankungen beitragen, diese etablieren, stützen und den Abbau verhindern.

Mela Eckenfels schreibt seit 1997 das Internet voll, Sach- und Fachtexte für Geld und Spaß und Fantasy, Science Fiction sowie historische Literatur aus Passion. Nebenbei studierte sie Geschichte und Creative Writing an der Open University und hat das Studium 2017 mit einem Titel abgeschlossen, für dessen Aussprechen sie immer erst mal Luft holen muss: BA (hons) Humanities with Creative Writing and History (Open).

mela.de/

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